Chemnitz, Miteinander und die Sache mit den Filterblasen

Ich lebe jetzt seit zehn Jahren in Quedlinburg. Zuvor hatte ich zweimal den Namen der Stadt, die nun meine Heimat ist, gehört. Einmal im Ferienlager, als es einen Ausflug dorthin gab. Und 1992. In einer Reihe mit Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen. Die Bilder der Ausschreitungen vor dem Asylbewerberheim in dem Jahr sind ein Trauma im Stadtgedächtnis, das die meisten gern verdrängen. Und sie führten dazu, dass Quedlinburg die erste „Stadt ohne Rassismus, Stadt mit Courage“ in Sachsen-Anhalt wurde.

Ein Blogbeitrag unserer Landesvorsitzenden Susan Sziborra-Seidlitz.

„Die 90er“ sind wohl nicht nur im Stadtgedächtnis von Quedlinburg eine Zeit, in der auf schmerzhafte Art und Weise sichtbar wurde, wie dünn und rissig der Firnis der Zivilisation ist, wie schnell er blättert, wenn Frustration, Abstiegsangst und das Gefühl abgehängt zu sein durch rechte Hetzer katalysiert werden. Uns allen (auch mir in Berlin) wurde klar, dass wir bei weitem nicht so weit entfernt sind von der unaussprechlichen Barbarei des frühen 20. Jahrhunderts wie wir immer glaubten. Wie anders kann es möglich sein, dass Menschen andere Menschen kollektiv zu Sündenböcken stempeln, ihnen das Recht (hier) (gut) zu leben absprechen, sich ihnen überlegen und höherwertig fühlen und das auch demonstrieren? Wie anders ist es möglich, dass der Mensch des Menschen Jäger wird?

August 2018. Ein Mensch ist tot. Getötet in einer Auseinandersetzung nach einem Stadtfest in Chemnitz. Das ist alles, was im Moment an gesicherten Informationen vorliegt.

Im Netz weiß jeder alles und noch mehr. Wer das Opfer ist, wer der oder die Täter sind und welches Motiv dahinter steht. Und nun werden in Chemnitz „Ausländer“ gejagt. Weil eine Horde Aufgehetzter glaubt, ihnen gehöre die Stadt, das Land. Weil sie sich aus Gerüchten, Halb- und Unwahrheiten eine Realität stricken, die es nötig macht, die Stadt und das Land zu „befreien“. Wer das kritisch sieht, würde das wohl ganz schnell anders sehen, wenn das Opfer ein eigener Verwandter wäre, wird da gehöhnt.

Wäre das Opfer mit mir verwandt, würde ich natürlich konsequente Aufklärung und Strafe fordern und erwarten. Einen Lynchmob eher nicht. Weil ich auf unseren Rechtsstaat vertraue. Warum tun das so viele nicht?

Weil sich in vielen Filterblasen keine Nachrichten aus seriösen Quellen mehr finden. Zum Beispiel die Tatsache, dass bislang zu der Auseinandersetzung sehr wenig bekannt ist. Die kommen dort einfach nicht mehr vor. Stattdessen macht sich dort die AfD mit ihren tausenden Kanälen breit und befeuert auf unverantwortliche Weise Gerüchte, Frust und Angst. Mit Tatsachenbehauptungen, Verleumdung regulärer Nachrichtendienste, Hohn für die Demokratie und ihre Protagonisten. Hier wird gezielt Stimmung gemacht gegen das demokratisch verfasste Deutschland und gegen die demokratische Zivilgesellschaft.

»Diese Strategie unterscheidet sich an keiner Stelle von der der NSDAP in den späten 20er Jahren.«

Das erleben wir ja gerade auch in Sachsen-Anhalt, wo sogar der parlamentarische Raum inzwischen für Angriffe auf die Demokratie genutzt wird. Denn das ist der Feind, wenn die AfD gegen „Miteinander e.V.“ und die Gewerkschaften hetzt. Diejenigen, die antidemokratische Bestrebungen aufdecken und benennen, sollen in die Nähe von politischem Extremismus gerückt werden. Diese Strategie unterscheidet sich an keiner Stelle von der der NSDAP in den späten 20er Jahren. Es ist Zeit, an dieser Stelle Parallelitäten zu erkennen und zu benennen. Wir können es uns nicht noch einmal leisten, hilf- und widerstandslos zuzusehen, wie diese Art von Menschenfeindlichkeit den parlamentarischen Raum erobert. Es ist wichtig, unsere Demokratie und die demokratische Zivilgesellschaft zu stärken gegen diese Art von Angriffen.

Deswegen ist es erschreckend, wenn führende Politiker der CDU in Sachsen-Anhalt der AfD in ihrer Argumentation auf den Leim gehen. Es geht nicht um die Frage Rechts oder Links. Die AfD greift die Demokratie an. Im Parlament und außerhalb. Die Meinungsfreiheit (lustigerweise meist, in dem sie behaupten, die ihre wäre eingeschränkt) und die Pressefreiheit greift sie an. Die AfD will ein anderes, ein unfreies, rückwärtsgewandtes, ungleiches, unsolidarisches Land und gibt das auch immer unverholener zu. Die Antwort aller Demokraten darauf kann nur sein: Zusammenstehen! Nicht mitheulen. Diese Partei hat nicht Recht, wenn sie die Zivilgesellschaft angreift. Nicht mal in Nuancen. Ihre Anschuldigen beruhen auf Gerüchten, Zuschreibungen und Lügen. Wir brauchen die Gewerkschaften, wir brauchen Initiativen wie Miteinander e.V. Weil sonst unser Land wieder an vielen Stellen aussieht wie gestern in Chemnitz. Weil es dann wieder viele Orte gibt, deren Namen nicht nur im Ausland Schaudern auslösen. Wenn es nicht gar noch schlimmer kommt.

Das haben wir Demokraten in der Hand. In Chemnitz und in Sachsen-Anhalt und überall. Und das geht nur miteinander.