90 Jahre Leben

Ein Text von Susan Sziborra-Seidlitz | Meine „Oma Schieta“ wird heute 90 Jahre alt. 90 Jahre Leben in Deutschland, fünf Söhne geboren, elf Enkel, die Urenkel unzählbar. Den Mann überlebt, einen der Söhne und zwei politische Systeme.

Meine Oma war 17, da heftete ihr jemand im schon zerbombten Berlin einen Orden an die Brust. Weil sie mit Hitlerjungs und alten Männern zusammen die Stadt verteidigen und den Krieg gewinnen sollte. Ein paar Tage später traf sie ein Bauchschuss. Sie erholte sich davon im menschenleeren Krankenhaus Prenzlauer Berg; sie war die erste Patientin im Frieden. Alle Anderen wurden noch im Kriegsmodus – im Keller – versorgt.

Oma kam in Kriegsgefangenschaft nach Landsberg. Sie wurde gut behandelt und sie lernte. Lernte Heinrich Heine lieben und Krieg und Kriegstreiber hassen. Das blieb bis heute so.

Oma wollte eine gerechtere Welt

Sie wurde in Gefangenschaft Kommunistin und dann überzeugte DDR-Bürgerin. Ich glaube, sie haderte nur wenig mit dem System. Ihr Mann war Journalist, am Ende Chefredakteur der wichtigsten Zeitung in Berlin. Aber sie lehnte das „Bonzentum“ ab. Es gab einen Wartburg und ein Telefon, aber sonst kaum Privilegien. Die meisten Dienstreisen ins Ausland unternahm mein Großvater allein. Oma wollte eine gerechtere Welt – eine Welt der Solidarität und des Friedens und sie glaubte, diese habe sich im Osten Deutschlands erfüllt. Die Söhne machten ihren Weg, manchmal eher schlecht als recht, aber alle konnten leben von dem was sie taten. Sie gründeten Familien, die Enkelschar wuchs und dann endete die DDR, die vielen aber meiner Oma nie falsch vorgekommen war.

Sie erlebte, wie ihre Enkel sich auseinandersetzten mit der gewesenen Zeit, kritisch fragten, die Freiheit suchten und auslebten, sich auch am neuen System rieben und an Grenzen stießen. Ungerechtigkeit und materielle Angst sah sie nun, all das, was sie über die BRD Schlimmes gehört hatte, bewahrheitete sich. Einige ihrer Söhne verzweifelten an der neuen Welt. Es gelang ihr nicht – auch nicht retrospektiv – die Wende als eine Chance, einen Auf- und Ausbruch, als das Ende eines unfreien, an Vielen unmenschlich und ungerecht agierenden Staates zu sehen. Wahrscheinlich weil es ihren persönlichen Erlebnishorizont überstieg. So ging es ja Vielen.

Oma Schieta blieb eine leidenschaftliche Streiterin für den Frieden. Sie erzählte selten, dann aber sehr eindrücklich von der Zeit, als sie Berlin verteidigte. Ihr Elternhaus, die ganze Schliemannstraße, ja fast der ganze Kiez waren zerstört. Es gibt kaum noch Familienbilder aus der Zeit davor. Alles verbrannt. Dann erzählte sie von Stunden voller Angst im Keller, von der Mutter die aufs Land floh (sie blieb wegen einer weiterlaufenden Ausbildung in Berlin) und von brennenden Straßen. Aber ganz klar und sehr deutlich sprach sie auch mit Abscheu von denen, die sie in den Krieg geschickt haben, von einem Deutschland, das Europa mit Terror und Gewalt überzog und davon, dass diese Gewalt dann zurückkehrte. Sie sprach von dem Entsetzen, das dem Begreifen und Erkennen folgte, von Schuldgefühlen und dem Wunsch alles besser zu machen. Vor Allem Frieden zu schaffen.

„Das Gedenken an zerstörte deutsche Städte ist untrennbar, muss untrennbar mit dem Bewusstsein für den Terror und die Gewalt verbunden sein, die zuvor von Deutschland ausging.“

Wenn ich heute meine Großmutter ansehe und an die gelebten Jahre denke, dann sehe ich, dass Geschichte nicht begreifbar wird, wenn man Ereignisse nur wie Fotos nebeneinander hängt. Dann sehe ich, dass wir sie kennen und uns immer wieder von ihr bewegen lassen müssen, um für die Zukunft zu lernen.

Also an alle Schlussstrich-Spacken und Erinnerungskultur-Wende-Idioten da draussen: Die Zerstörung von Magdeburg, von Halberstadt, der Schliemannstraße in Berlin war direkte Folge des Angriffskrieges von Nazideutschland. Und an alle, die glauben, das Wählen rechter Parteien wäre irgendwie lösungsorientiert: Dieser Angriffskrieg war direkte Folge der Wahlentscheidungen von 1933 und davor. Das Gedenken an zerstörte deutsche Städte ist untrennbar, muss untrennbar mit dem Bewusstsein für den Terror und die Gewalt verbunden sein, die zuvor von Deutschland ausging.

Deswegen ist es unerträglich, wenn dieselben Leute, die dieses Bewusstsein und die sich daraus ergebende Verantwortung ausmerzen wollen, das Gedenken an die Zerstörung von Städten quasi kapern. Es ist nachvollziehbar, wenn sich nun Initiativen von der Meile der Demokratie in Magdeburg zurückziehen, weil die AfD ihre Teilnahme ankündigt hat. Und deswegen ist es genauso wichtig, dort zu bleiben. „Zu Risiken und Nebenwirkungen von Rechtspopulismus lesen sie ein Geschichtsbuch oder fragen sie ihre Großeltern.“ Ich habe meine Großmutter oft gefragt. Und sie hat geantwortet. Und ich habe zugehört. Deswegen stelle ich mich auf die Meile der Demokratie. Denen entgegen.

Danke Oma.