Die Krise nicht hinnehmen – Gesundheitliche Versorgung vor Ort sichern

Die Krise der stationären Gesundheitsversorgung in Sachsen-Anhalt ist den meisten bewusst und wird politisch diskutiert. Aber auch das System der ambulanten Gesundheitsversorgung kommt aufgrund der demographischen Entwicklung an seine Grenzen und benötigt Aufmerksamkeit und Weichenstellungen.

Nicht nur, dass die Bevölkerungszahl in Sachsen-Anhalt in den ländlichen Regionen kontinuierlich sinkt und damit ein quantitatives Problem entsteht, vielmehr erzeugen qualitative Veränderungen große Herausforderungen für die Versorgung, weil multimorbide Patient*innen häufiger werden und gesundheitliche Erkrankungen und Pflegebedarfe immer häufiger gemeinsam auftreten. Der demographische Wandel macht auch vor den Ärzt*innen selbst nicht halt. Ihr Durchschnittsalter steigt und absehbar werden viele Leistungserbringer*innen aus dem System aussteigen, wodurch die Versorgungssituation zunehmend prekär wird.

Bereits manifest sind Versorgungsdefizite im Bereich der hausärztlichen Versorgung. Auch gerade der wohnortnahe Zugang zu Kinderärzt*innen muss in Sachsen-Anhalt garantiert sein und ist es immer weniger.

Absehbar wird es schwieriger Praxisnachfolger*innen zu finden, weil es sich entweder abzeichnet, dass eine Einzelpraxis sich wirtschaftlich kaum trägt oder – im umgekehrten Fall – aufgrund des Versorgungsmangels mit einem sehr großen Zustrom an Patient*innen zu kämpfen haben wird und etwa viele Bereitschaftsdienste sich abzeichnen, wenn die Zahl der Praxen in einer Region sinkt.

Diese Effekte der Demographie werden durch einen zweiten Faktor befördert: Der Trend bei jungen Ärzt*innen, statt auf eine eigene Praxis zu setzen lieber in einem Angestelltenverhältnis zu arbeiten. Darauf deuten aktuelle Zahlen und Befragungen. Hierauf gilt es politisch zu reagieren. Das klassische Bild ärztlicher Einzelgänger*innen, die unermüdlich für ihre Patient*innen da sind, erodiert. Viele junge Ärzt*innen präferieren ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Beruf und Privatleben, was grundsätzlich zu begrüßen ist. Selbstausbeutung soll nicht mehr handlungsleitend sein und darf nicht die erwartete Grundlage politischer Bewertung der Versorgungssituation sein.

Hinzu kommt, in diesem Falle als möglicher Teil einer Lösung, die zunehmende Professionalisierung der Gesundheits- und Pflegeberufe. Auch diese sägt am Ast eines bisher ärztlich-zentrierten Gesundheitssystems. Einerseits aus dem Erstarken der Profession selbst hergeleitet und begleitet von Entwicklungen wie der Akademisierung und der Stärkung der Selbstvertretung durch beispielsweise Pflegekammern. Andererseits aus der Not geboren, weil das ärztlich-zentrierte, ambulante System die Versorgung mittelfristig nicht wird sichern können. Akteur*innen wie die Kassenärztliche Vereinigung mit ihrem Sicherstellungsauftrag sind daher genötigt, neue Wege zu gehen. Diese neuen Wege gilt es von Seiten der Landespolitik einzufordern, aber insbesondere auch zu unterstützen und zu begleiten.

Denn klar ist für uns BÜNDNISGRÜNE: Gesundheitsversorgung gehört zur Daseinsvorsorge und ist integraler Bestandteil einer Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Um diesen integralen Bestandteil wirklich zukunftsfest zu machen, braucht es neue Ideen und vor allem die Partizipation und Zusammenarbeit aller politischen und auch aller Akteur*innen im Gesundheitssystem einschließlich der Patientenvertretungen.

Gesundheitliche Versorgung zur gemeinsamen Chefsache machen

Ein nebeneinander – im schlimmsten Fall gegeneinander – der Beteiligten an der gesundheitlichen Versorgung darf es nicht mehr geben. Wir wollen regionale Verantwortungsgemeinschaften befördern. Also den Zusammenschluss aller relevanten Akteure der gesundheitlichen Versorgung, die sich dem gemeinsamen Ziel einer bestmöglichen Versorgung in ihrer Region verschreiben. Von den Patient*innen selbst, über die Kommunen mit ihren Gesundheitsämtern, den Leistungserbringer*innen, den Apotheken, den Heilmittelerbringern, den Kassen bis hin zu Vereinen und Verbänden sowie der kassenärztlichen Vereinigung. Im Bereich der psychiatrischen Versorgung konnten wir diesen Weg durch die gesetzliche Schaffung von gemeindepsychiatrischen Verbünden bereits beschreiten.

Einen solchen Kooperationszusammenhang im Bereich der ambulanten Versorgung wollen wir durch die verbindliche Aufnahme von kommunalen Gesundheitskonferenzen im ÖGD-Gesetz auf den Weg bringen. Solche Gesundheitskonferenzen sind keine einmaligen, regionalen Fachkonferenzen, sondern angelegt als kontinuierliches Arbeits- und Vernetzungsgremium mit den Gesundheitsämtern als Geschäftsstelle. Deren erstarkte Stellung durch ihre prominente Rolle in der Pandemiebekämpfung ist aufzugreifen und zu nutzen, um sie langfristig in der Kommune zum gesundheitspolitischen Dreh- und Angelpunkt zu machen. Gesundheitskonferenzen können bspw. beginnend etwa mit der Erarbeitung von kommunalen Gesundheitszielen in Analogie zu den Gesundheitszielen des Landes ihre Tätigkeit beginnen. Wichtige Aufgabe dieser Gesundheitskonferenzen wird es auch sein, bei sich verändernden stationären Versorgungssituationen, durch Anpassungen im ambulanten Bereich, zumindest teilweise Kompensation zu schaffen. Beim regionalen Wegfall von Kliniken im Bereich Pädiatrie oder Geburtshilfe beispielsweise, sollte mit einem Ausbau der Kassenarztsitze und geförderten Hebammenpraxen einer Unterversorgung entgegengewirkt werden.

Verstärken wollen wir diesen kooperativen Ansatz durch die Förderung von Gesundheitsregionen. Dafür wollen wir ein Modellprojekt des Landes auf den Weg bringen. Beispielgebend ist dafür seit vielen Jahren das Projekt “das Gesunde Kinzing-Tal” in Baden-Württemberg (https://www.gesundes-kinzigtal.de/). Verkürzt gesagt wird eine Gesundheitskonferenz ergänzt durch eine Managementgesellschaft, die für eine Gesundheitsregion eine Gesamtbilanz zieht zu Ausgaben und Gesundheitsleistungen. Effizienzsteigerung heißt dann ausdrücklich nicht Leistungsverknappung und damit Einsparungen, sondern beispielsweise die erstmalige wirkliche Kennbarmachung von z.B. Wirkungen von Präventionsmaßnahmen.

Mit der Landarztquote hat das Land Sachsen-Anhalt einen guten Weg begonnen, schon während des Studiums den Nachwuchs für ländliche Praxen zu sichern. Dieses Instrument sollte ausgebaut werden und, wenn möglich, auch zur Sicherung der fachärztlichen ambulanten Versorgung nutzbar gemacht werden.

  • Novelle des ÖGD-Gesetzes zur Implementierung kommunaler Gesundheitskonferenzen
  • Aufwertung und Stärkung der Gesundheitsämter
  • Landesförderung für ein Modellprojekt zu Gesundheitsregionen
  • Kopplung der Landesgesundheitskonferenz an die kommunalen Gesundheitskonferenzen
  • Fortentwicklung der Gesundheitsziele des Landes mit Ausrichtung auf die ländlichen Regionen
  • Ausbau der Landärztin/Landarzt-Quote / Aufbau weiterer fachärztlicher Bereiche

Professionen auf Augenhöhe

Das bisher wirkende Strukturprinzip der Arztzentrierung degradiert alle weiteren Berufe im Gesundheitssystem zu Helfs- und Zubringerberufen. Die Akademisierung der Hebammenausbildung, die beginnende Akademisierung der Pflege, die neue generalistische Pflegeausbildung, Einrichtung und Diskussion zur eigenständigen Vertretung durch Pflegekammern aber auch Heilberufekammern heben aber aktuell die Gesundheits- und Pflegeberufe peu a peu auf eine gleiche Augenhöhe.

Für uns BÜNDNISGRÜNE ist klar: Wir wollen eigenverantwortliche Professionen im Bereich Gesundheit und Pflege, die auf Augenhöhe mit den Ärzt*innen in multiprofessionelle Teams arbeiten.

Dies ist auch ein zentraler Strang emanzipativer Ansätze, denn der ärztliche Berufsstand und die zuarbeitenden Pflegeberufe waren und sind durch eine Geschlechterasymmetrie untersetzt. Männlicher Arzt. Weibliche Pflege. Rein empirisch kippt dieses Verhältnis. Jetzt gilt es auch die Strukturelemente zu überwinden, die eigenständige Pflege- und Gesundheitsprofessionen verhindern.

Als zentrales Element betrachten wir hier die berufliche Selbstverwaltung. Qualitäts- und Kriterienkataloge sollen zukünftig ausschließlich aus der eigenen professionellen Expertise heraus entwickelt und nicht länger durch Berufsfremde, wenngleich aus benachbarten Berufsgruppen, definiert werden.

Diese Aufwertung betrachten wir auch als zentrale Maßnahme für die Fachkräftegewinnung. Eine Profession mit einem gesunden Selbstvertrauen, mit starken Interessenvertretungen und eben auch mit individuell möglichen Karrierepfaden spricht weit mehr junge Menschen an, als das Bild der Pflege als rein “dienende” und “aufopferungsvolle” Rolle.

Mit in Deutschland neuen Berufsfeldern zum Beispiel für die Pflege, wie dem Community Health Nursing, wachsen auch die Möglichkeiten, Versorgungsdefizite strukturell zu lösen. Von Gemeindeschwestern-Projekten wie „VERA“ über an Praxen angebundene ambulante Fachpflege bis hin zu Prävention: es ist Zeit diese Ideen aus dem Status von Pilotprojekten zum Teil der Regelversorgung zu entwickeln.

Konkret bedeuten Gesundheitsprofessionen in eigener Verantwortung zum Beispiel: wir wollen den Direktzugang zu Leistungen der Gesundheitsberufe. Ärzt*innen sollen nicht weiter Gatekeeper für diese Leistungen sein. Physiotherapeut*innen oder Ergotherapeut*innen etwa sind dafür ausgebildet und fachlich in der Lage, auf der Basis fundierter Diagnostik über den Behandlungsbedarf zu entscheiden. Es ist überfällig und ressourcenschonend, diese Expertise anzuerkennen und die Erstattung solcher Behandlungen nicht länger von einem ärztlichen Rezept abhängig zu machen.

Beispielgebend ist hier die Versorgung durch approbierte Psychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen. In diesem Bereich brauchen wir wegen den Folgen der Pandemie zusätzlich einen Ausbau der Versorgungsstruktur.

Wir sind der Überzeugung, dass durch Maßnahmen dieser Art auch das Profil der ärztlichen Tätigkeit geschärft wird und Ärzt*innen sich wieder auf ihre Kernkompetenz beziehen können, anstelle vielfach nur Überweisungen auszustellen. Die ärztliche Ausbildung soll dabei explizit nicht zur Disposition gestellt werden.

Das erfolgreiche Projekt der Hebammenkreißsäle ist ein gelungenes Beispiel aus Sachsen-Anhalt. Entsprechend wollen wir dies ausweiten und im Land flächendeckend ausrollen in den Krankenhäusern mit Geburtsstation. Für die ambulante Versorgung muss dem Mangel an Hebammen durch Hebammenpraxen und der Förderung freiberuflicher Hebammen im ländlichen Raum begegnet werden.

  • Landespolitischer Einsatz für die Schaffung eigenständiger Professionen im Bereich der Gesundheits- und Pflegeberufe.
  • Initiierung einer Umfrage und Kampagne zur Einrichtung einer Pflegekammer.
  • Aufnahme von Pflegeverbänden in das Gremium nach §90a SGB V
  • Unterstützung von Vorhaben auf Landesebene zum Ausbau der Ansätze von VERA & Co. (Gemeindeschwestern) und community health nursing und Einsatz für ihre Integration in die Regelversorgung
  • Mit Hebammenpraxen den erfolgreichen Ansatz des hebammengeleiteten Kreißsaals im ambulanten Bereich ausbauen und ergänzen

Überwindung der ärztlichen Einzelpraxis

Medizinische Versorgungszentren, multiprofessionell besetzte, ärztliche Praxen, von Kommunen bereit gestellte Praxisräume etwa für Rotationssprechstunden, mobile Praxen, telemedizinisch unterstützte Leistungserbringung von Gesundheits- und Pflegeberufen in der Fläche. All dies sind Formen der ambulanten Gesundheitsversorgung, die es breit zu erproben und zu stärken gilt. Sie alle ergänzen das Prinzip der ärztlichen Einzelpraxis in eigener Niederlassung. Um die passende Form für die jeweiligen regionalen Bedarfe zu entwickeln, sind die zuvor genannten Gesundheitskonferenzen geeignete Gremien, weil dort die Sichtweisen, Informationsstände und Interessen aller beteiligten Akteur*innen zusammenlaufen und im besten Falle abgestimmt werden können.

Im besten Falle werden die Kommunen zum Taktgeber dieser Entwicklung. Dies wollen wir durch einen Landespreis unterstützen, in dem die besten Versorgungs- und Präventionsideen nicht nur geehrt werden, sondern durch die öffentliche Aufmerksamkeit auch zum Nach- und Noch-besser-machen animieren.

Große Hoffnungen werden, wie in allen Bereichen, auch im Bereich der Gesundheitsversorgung in die Digitalisierung gesetzt. Mehr oder weniger vielversprechende Projekte auf Bundesebene wie die Einführung der digitalen Patientenakte oder das digitale Rezept sind noch nicht abgeschlossen und können auf ihre Wirksamkeit daher noch nicht beurteilt werden. Die Digitalisierung der Dokumentation im Pflegebereich sorgt bei den Anwender*innen oft eher für Frustration. Deshalb ist es höchste Zeit, die Zukunftschancen, die in digitalen Anwendungen im Gesundheitsbereich liegen, konzertiert hervorzustellen und nutzbar zu machen. Von telemedizinischer Unterstützung von Notfallversorgung und Diagnostik über die tatsächliche Entlastung durch digitale Dokumentation bis hin zu modernen Krankenhausinformationssystemen und der einfachen und sicheren Kommunikation zwischen Leistungserbringern: es ist an der Zeit, Forschung, Entwicklung und Kompetenzen zu bündeln und an einem Punkt nutzbar zu machen. Wir fordern daher die Errichtung eines Landeszentrums zur Digitalisierung im Gesundheitswesens, das alle bisherigen Ansätze und Aktivitäten zum Beispiel an der MLU oder das Projekt TGD (Translationsregion für digitalisierte Gesundheitsversorgung) bündelt und ergänzt.

  • Handlungsleitfäden für die Kommunen zur Errichtung kommunaler MVZ und multiprofessioneller kommunaler Gesundheitszentren
  • Ausschreibung des Landespreises “Innovative Versorgungsformen in ländlichen Räumen” oder “Das gesunde Dorf”
  • Einrichtung eines Landeszentrums zur Digitalisierung im Gesundheitswesen

In der Medizin ist die Krise die sensibelste Krankheitsphase. Sie kann zur endgültigen Katastrophe führen, oder durch glückliche Wendung die Genesung bewirken. Politisch ist es nicht an Glück gebunden, die aktuelle gesundheitliche Versorgungskrise zu lösen. Sondern an mutige und kluge Entscheidungen und Weichenstellungen. Und die Zeit dafür ist spätestens jetzt.

Beschlossen auf dem Digitalen Landesdelegiertenrat am 19. März 2022