Es brennt, Brüder, es brennt 9. November 2018 Ein Blogbeitrag unserer Landesvorsitzenden Susan Sziborra-Seidlitz über die dünne Decke der Zivilisation, Verantwortung und die Frage, was wäre, wenn … Ich bin in einer musikalischen Familie aufgewachsen. Wilde Abende hindurch habe ich mit meinem Vater jiddische Lieder am Lagerfeuer gesungen. Meine pathetisch kieksende Stimme, seine wilde Gitarre, das passte und machte froh. Es gibt ein Lied, da schwieg die Gitarre, da verlor sich der Schwung in Schwermut und einer diffusen Scham. „Es brent Briderlejch es brent- Oj unser orem Schtetl nebich brent. Bejse Windn mit Irgosen rajssn brechen un zeblosn Schtarker noch di wilde Flamn. Alz arum schon brent…“ Es brennt! Vor achtzig Jahren brach sich zuvor schon geschürter Hass auf Juden konzertiert Bahn und mit den Novemberpogromen begann ein Zivilisationsbruch noch heute unfassbaren Ausmaßes. Was zuvor Worte waren, Hetze, Diffamierungen, einzelne unorganisierte An- und Übergriffe, war nun organisiert. Eine Mordmaschinerie gigantischen Ausmaßes setzte sich in Gang, die am Ende die jüdische Bevölkerung Europas nahezu ausgelöscht hatte. Das war eine Mensch-Maschine. Mit Bürger-Zahnrädern. Väter und Söhne, Mütter und Schwestern hielten sie in Gang. Nachbarn, die morgens freundlich über den Gartenzaun grüßten und abends am Abendbrottisch kultiviert über einen neuen Kinofilm parlierten. Und das Tagwerk war Mord. Vielleicht nicht direkt, vielleicht war es nur das Ausfüllen von Bestellzetteln für das Vernichtungsmittel Zyklon B an einem sauberen Schreibtisch in einem warmen und aufgeräumten Büro. Aber es war Mord. Und dann die vielen, die wegschauten. Die ihr modernes Großstadtleben lebten oder ein Ländliches. Mit Ausgehen und Familienausflug, mit Badeanstalt und Rodelspaß. Mit Kühefüttern und Kinder-zu-Bett-bringen. Ein ganz normales Leben leben – wie wir heute. Die, die zusahen oder viel mehr wegsahen, wie ihre Nachbarn verschwanden. Wie jüdisches Leben zerstört und verschleppt wurde. Wie ihre Mitbürger entrechtet, eingesperrt und getötet wurden. Die Abscheulichkeit dieser Massenvernichtung und die Banalität, mit der normales Leben nebenher und dabei stattfand, verschlägt mir noch heute den Atem und nicht nur ich frage mich, wie das geschehen konnte. Deutschland war doch eine aufgeklärte, moderne Nation, die Gräuel des ersten Weltkrieges standen seinen Einwohner*innen noch deutlich vor Augen und das Entsetzen über das Schlachten im Feld war echt. Wie konnten die gleichen Menschen das Morden ihrer Mitbürger zulassen oder mittun? Wir fühlten uns lange sicher in der inneren Distanz unserer Gesellschaft zu diesen Vernichtungstaten. Wir sind reflektiert und modern und es gibt diesen Konsens „nie wieder!“ Doch wenn ich diese Sicherheit, die eine künstliche ist, nur einmal beiseitelasse, dann sehe ich, die Worte, die Hetze, die Diffamierung haben längst begonnen. Überfälle, Angriffe, Übergriffe, Brandanschläge haben längst begonnen. Das Feindbild hat sich verändert, aber es ist nach wie vor „das Fremde“, „das Nichtdeutsche“. Und nun hat eine politische Partei begonnen, die hasserfüllte, abgrenzende, ausgrenzende, schuldzuweisende, hetzende Sprache in die Parlamente zu tragen. Nein, das ist jetzt nicht mehr die abstoßende marschierende Springerstiefel-SA, das ist jetzt die Schlips-und-Kragen-Partei, die unter dem Deckmantel des normalen bürgerlichen Lebens mit Worten versucht, die Mensch-Maschine wieder in Bewegung zu bringen. Die rechtsextreme AfD greift die zivilisierte politische Auseinandersetzung an, aber sie tut viel mehr: Sie bereitet durch die Manifestation eines gemeinsamen Feindbildes einem neuen Zivilisationsbruch den Boden. Hass und Gewalt in der Sprache führt zu Hass und Gewalt auf der Straße – das ließ sich in den letzten Monaten vielerorts beobachten. „Wo ist dein Bruder Abel?“ ist die Überschrift der Veranstaltungen zur Erinnerung an die Reichspogromnacht in meiner Heimatstadt Quedlinburg. Wollen wir zulassen, dass wieder unsere Brüder und Schwestern angegriffen werden? Dass wir Teil einer zulassenden Gesellschaft werden? Nein! Jetzt, besonders in diesem November, da sich der Beginn der organisierten Vernichtung europäischen jüdischen Lebens zum 80. Mal jährt, ist die Zeit, dass alle Demokratinnen und Demokraten zusammenstehen müssen. Wir wissen, was geschehen ist, und wir wissen, wie es begonnen hat. Da gilt keine Ausrede, da gilt kein Verschwurbeln: Das darf kein zweites Mal passieren! Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen Menschen diffamieren, wir dürfen nicht zulassen, dass Rassismus in Parlamenten Ausdruck findet, wir dürfen Gewalt und Hass in der Sprache auch unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit nicht hinnehmen. Auch wenn dreizehn Prozent der Deutschen bereit sind, eine rechtsextreme Partei zu wählen, dann sind es siebenundachtzig Prozent der Menschen nicht. Wir dürfen nicht zusehen, wir müssen die Demokratie verteidigen. Und die Menschlichkeit. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung.