Tschiche-Demokratiepreis 2022 an Razak Minhel verliehen

Antje Wilde, Steffi Lemke und Madeleine Linke überreichen den Preis an Preisträger Razak Minhel in Dessau-Roßlau am 16. Mai 2022.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt haben zum dritten Mal den Hans-Jochen-Tschiche-Demokratiepreis vergeben. Preisträger ist in diesem Jahr Razak Minhel aus Dessau-Roßlau. Der Preis wurde am gestrigen Montagabend im Multikulturellen Zentrum Dessau-Roßlau überreicht durch Antje Wilde, Witwe des 2015 verstorbenen Hans-Jochen-Tschiche, Bundesumweltministerin Steffi Lemke und Madeleine Linke, Landesvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt.

Bundesumweltministerin Steffi Lemke, wie der Preisträger ebenfalls aus Dessau-Roßlau, sagte in ihrer Laudatio: „Razak, du zeichnest dich unter anderem dadurch aus, dass du auch in schwierigen Zeiten hilfst. Zum Beispiel der Familie von Alberto Adriano nach dessen Tod. Noch heute, über 20 Jahre nach diesem schrecklichen Tod, erinnerst du, erinnert das Multikulturelle Zentrum, an das schreckliche Verbrechen. Dein Engagement im Fall Alberto Adriano ist außergewöhnlich.

Du hast in dieser, in deiner Arbeit tatsächlich deine Bestimmung gefunden. Ich glaube, das teilst du auch zutiefst mit Hans-Jochen Tschiche. Seit über drei Jahrzehnten stellst du dich dem Kampf gegen Rassismus, für Integration, für Mitmenschlichkeit. Wer sich in Dessau für Demokratie, für Frieden, für Menschenrechte einsetzt, der weiß, dass er in Razak Minhel einen festen Ansprechpartner und einen wertvollen Verbündeten hat.“

Der Preisträger

Auszüge aus dem Vorschlagsschreiben des LAMSA e. V.:

Seit fast 30 Jahren setzt sich Razak Minhel mit seinen Ideen, ganzer Kraft, mit Durchsetzungsvermögen und großem Engagement für die tolerante, vielfältige, demokratische Gesellschaft ein.

Razak Minhel ist gebürtiger Iraker. 1976 kam er in die damalige DDR für eine Ausbildung, nach deren Abschluss er im RAW Dessau zunächst als Feinmechaniker, nach dem Abschluss eines Fernstudiums dann als Disponent tätig war. 

Nach der Wiedervereinigung wurde die Hoffnung vieler Menschen mit Migrationsgeschichte enttäuscht, dass das Versprechen von Freiheit und Demokratie für alle in Deutschland lebenden Menschen gelten würde. Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt wurden für viele zur einschneidenden Erfahrung. Razak Minhel gründete daher bereits 1993 mit Gleichgesinnten das Multikulturelle Zentrum Dessau e. V. (MKZ), eine der allerersten Migrant*innenorganisationen in Sachsen- Anhalt: Als Ort der Beratung und Unterstützung von und für Menschen mit Migrationsgeschichte, als Ort des Kennenlernens und des Austausches unterschiedlicher Religionen, Kulturen, politischer Ansichten, als Brücke zwischen Zuwanderungs- und Mehrheitsgesellschaft.

Demokratie, das wurde für Minhel zur Maxime, braucht engagierte Bürger*innen, und in dieses Engagement müssen möglichst viele einbezogen werden, ganz unabhängig von Herkunft oder Staatsbürgerschaft. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog würdigte das Engagement von Razak Minhel 1996 anlässlich der Verleihung der Verdienstmedaille mit der Begründung, dass er „… sich erfolgreich für die Unterstützung und Integration von Flüchtlingen und Einwanderern … einsetzt.“

Das Jahr 2000 wurde für ihn zu einer Zäsur. In der Nacht des 11. Juni wurde im Stadtpark von Dessau Alberto Adriano, geboren in Mosambik, Bürger der Stadt, Ehemann und Vater von drei Kindern, Arbeiter im Schlachthof, kurz vor seiner Wohnungstür von 3 rechtsradikalen Jugendlichen gedemütigt, misshandelt, geschlagen und getreten, sodass er an seinen schwersten Verletzungen am 14. Juni verstarb.

Minhel betreute und begleitete die Familie in ihrer Trauer, initiierte und organisierte Spendensammlungen, bemühte sich sensibel darum, die zahlreichen Besuchs- und Kondolenzanfragen so zu steuern, dass Ehefrau und Kinder nicht überfordert wurden, machte Politik und Medien immer wieder darauf aufmerksam, dass der Mord an Alberto Adriano kein „Einzelfall“, die Tat auch gefährlicher Höhepunkt und Ausdruck einer Stimmung im Land sei, die Migrant*innen entrechtet, diskriminiert und zur Ursache von und zum Sündenbock für gesellschaftliche Probleme macht.

Nach dem Feuertod von Oury Jalloh in einer Zelle des Dessauer Polizeireviers unterstützte Minhel den jahrelangen Kampf um Aufklärung des Todes, war beteiligt an den Mahnwachen, versuchte zugleich alles, damit die Enttäuschung der afrikanischen Community über die Aufklärungsbemühungen nicht eskalierte.

Der religiösen Toleranz widmet er sich in langjähriger freundschaftlicher Verbundenheit mit Dr. Alexander Wassermann, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde mit dem Projekt „Dialog über Musik“, das sich an muslimische Männer und Frauen richtet. Seit mehr als 10 Jahren gilt ihrer besonderen Aufmerksamkeit in der Arbeit mit Jüdischen und muslimischen Jugendlichen der Achtung und der Vermittlung demokratischer Werte.

Das Bemühen um Gemeinsamkeit prägt auch die gesamte Projekt- Arbeit des MKZ unter seiner Leitung. Ob bei der Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminierung, beim Einsatz gegen antijüdische Ressentiments und für religiöse Toleranz, bei der Unterstützung muslimischer Frauen bei der Bewusstmachung ihres Selbstbewusstseins und ihrer Selbstbestimmung oder der Sensibilisierung in Schulen. Immer geht es auch um die Frage, wie Teilhabe stattfinden, wie Gestaltung von Gesellschaft erfolgen, wie Verantwortung wahrgenommen werden kann.

Der Preis

2016 beschlossen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt die Auslobung des „Hans-Jochen-Tschiche Gedenkpreis zur Förderung von Engagement, Demokratie und Parlamentarismus“ in Erinnerung an ihren ehemaligen Ehrenvorsitzenden. Hans-Jochen Tschiche war DDR-Oppositioneller, später Fraktionsvorsitzender der grünen Landtagsfraktion der 1990er Jahre und zentraler Akteur der rot-grünen Minderheitsregierung sowie später der Gründer des Vereins ‚Miteinander‘ zur Förderung von Demokratie und Weltoffenheit.

Der Preis soll neben der Erinnerung an seinen Namensgeber und dessen Lebensthemen auch insbesondere Einzelpersonen und Initiativen ehren, die im Kleinen und abseits der großen Städte im Land für ein gelungenes Miteinander, Integration und die Bewahrung der demokratischen Errungenschaften der Friedlichen Revolution streiten.

Bisherige Preisträger*innen sind: 

  • Die Initiative „Buntes Roßlau“ (2017)
  • Die Initiative „Oschersleben ist bunt“ (2019)
  • Susanna und Markus Nierth (Sonderpreis 2019)
  • Razak Minhel (2022)