Oury Jalloh – Weshalb sich unsere Fraktion enthalten hat

Der Fall, die Nichtaufklärung und die Verfahren und Vorgänge um den Tod von Oury Jalloh, der an Händen und Füßen gefesselt in einer Zelle im Dessauer Polizeirevier verbrannte, müssen uns mit Scham und Entsetzen erfüllen.

Ein Blogbeitrag unserer Landesvorsitzenden Susan Sziborra-Seidlitz.

Ich habe das Vertrauen in die eigenständige automatische Funktion unseres Rechtsstaates verloren, als im letzten Jahr öffentlich bekannt wurde, dass es schon vor Oury Jallohs Tod in eben diesem Polizeirevier Todesfälle von in Gewahrsam Genommenen gab, die Anlass für Untersuchungen waren. Ergebnislos. Es ist für mich unfassbar, dass es in diesem Land ganz offenbar die Möglichkeit gibt, Aufklärung zu verhindern. Bei den gerichtlich festgestellten Lügen und Vertuschungen in diesem Fall, bei allen Indizien die mehrere Sachverständige zu dem Schluss gebracht hat, dass der Tod von Oury Jalloh hätte Mord sein können (wie der WDR im November 2017 berichtete), gab es keine Ermittlungen, die dies ausräumen hätten können.

Es gab Verfahren, zweitklassige Freisprüche und der Verdacht – der ungeheuerliche aber nicht unwahrscheinliche Verdacht – blieb. Das können wir, das können Demokratinnen und Demokraten, das können alle Menschen in unserem Land nicht hinnehmen. Der aus sich heraus funktionierende und alle gleich behandelnde Rechtsstaat ist eine der Grundfesten unseres Zusammenlebens. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass das mitunter bloße Theorie ist, dass Recht haben und Recht bekommen nicht das gleiche ist, dass immer einige Menschen etwas gleicher behandelt werden als andere. Aber dass der Rechtsstaat auf so dramatische Art versagt, ist ungeheuerlich.

Die Vorgänge im Dessauer Polizeirevier müssen untersucht und offengelegt werden. Das Prinzip „im Zweifel für den Angeklagten“ gilt, aber im Falle von Staatsbediensteten dürfen solche Zweifel nicht bleiben. Es ist Aufgabe des Rechtsstaates, so lange zu ermitteln, bis es keine Zweifel mehr gibt. Schuldige müssen belangt und ein unberechtigter Verdacht ausgeräumt werden. Das alles ist in Dessau nicht geschehen.

Mit allem Recht fordern Freund*innen und Verwandte, fordern Initiativen und Demonstrant*innen seit vielen Jahren die vollständige Aufklärung und auch die politische Aufarbeitung des Falles Oury Jalloh. Leider ist es bislang nicht gelungen, die nötigen gesellschaftlichen und politischen Mehrheiten dafür zu organisieren. Ich finde das vor allem bei der sich als Rechtsstaatspartei generierenden CDU unverständlich und bedauerlich. Niemand, der sich ernsthaft „entschieden“ hinter „unsere“ Justiz und Polizei stellt (der rechtspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion von Sachsen-Anhalt, Jens Kolze am 28.2.2019) kann wollen, dass dieser Verdacht unausgeräumt, dieser Fall unaufgeklärt bleibt. Ein starker Rechtsstaat braucht nicht blindes, er braucht wissendes und hinsehendes Vertrauen seiner Bürger, sonst ist er kein starker Rechtsstaat. 

In einem langen Aushandlungsprozess ist es gelungen, den Beginn von Offenlegung und Aufarbeitung einzuläuten. Das Parlament erhielt 2017 – fast 13 Jahre nach dem Tod von Oury Jalloh – erstmals Einsicht in die Ermittlungsakten. Die Mitglieder des Rechtsausschusses haben sich auf die Einsetzung von Sonderberatern geeinigt, die die Akten einsehen und bewerten sollen. Der Rechtsanwalt Jerzy Montag und der frühere Münchner Generalstaatsanwalt Manfred Nötzel werden die Aufklärung und Offenlegung des Falles, der Ermittlungen, der Zusammenhänge und die politische Bewertung voranbringen.

Anders als Henriette Quade (Landtagsfraktion Die Linke) behauptet, ist die Akteneinsicht und die Einsetzung dieser beiden Sondergutachter nicht Makulatur, sondern ein großer Schritt auf dem Weg zu Gerechtigkeit und politischer Bewertung im Fall Oury Jalloh.

13 Jahre lang geschah politisch gar nichts. Das kann und muss ungeduldig machen. Nun ist es in einem mühsamen Prozess gelungen, einen Kompromiss zu finden, der eine politische Aufarbeitung in Sachsen-Anhalt überhaupt erst möglich macht. Es ist gelungen, Sonderberater einzusetzen, deren Bestreben es sein wird, die Dinge vollumfänglich auszuleuchten und nach den Prinzipien des Rechtsstaates zu bewerten.

Mit den Ergebnissen dieser Bewertung wird politisch umzugehen sein. 

Für mich ist die Arbeit der Sonderberater nicht das Ende und ein Deckeln, sondern der Anfang der politischen Aufarbeitung.

Dafür ist es wichtig, dass diese Gutachter arbeiten können. Ein öffentliches Anzweifeln dieses eingeschlagenen Weges hätte von vornherein die Position und damit die Arbeitsfähigkeit der Gutachter schwächen können.

Der von den Linken in den Landtag eingebrachte Antrag für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) hätte auch mit Zustimmung von Grünen und SPD keine Chance auf eine parlamentarische Mehrheit gehabt. Gleichzeitig hätte eine solche Zustimmung den mühsam ausgehandelten Kompromiss zur Einsetzung der Sonderberater gefährden können. Ich verstehe, dass sich die Freund*innen und Verwandten, die Initiativen und Demonstrant*innen von Grünen und der SPD das Signal gewünscht haben, diesem Untersuchungsausschuss zuzustimmen. Und dass sie nun enttäuscht sind.

Diese Zustimmung hätte aber bedeutet, die einzige wirkliche Chance auf Aufklärung und politische Aufarbeitung – die Arbeit der Sonderberater – zu gefährden und möglicherweise aus der Hand zu geben.

Es ist manchmal schwer zwischen Bauch und Kopf zu entscheiden, zwischen gerecht und richtig, zwischen dem was sein sollte und dem was realistisch möglich ist. Wohl wissend, dass das schwerer zu erklären ist, als ein einfaches Ja zu einem Untersuchungsausschuss, der trotzdem nicht kommen wird und dass unsere Freunde und Partner, auch Parteimitglieder, enttäuscht sein werden, hat sich unsere Fraktion gestern entschieden, sich in der Abstimmung zum Untersuchungsausschuss Oury Jalloh zu enthalten. Das war mutig. Und es sorgt dafür, dass es voran geht. 


Weitere Informationen hier bei der Landtagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.