Landleben braucht Lifestyle – Grüne Strategien für lebenswerte ländliche Räume

In der aktuellen Politik herrscht immer noch eine idealisierte Sicht auf ländliche Räume vor. Bei uns Grünen stehen vor allem Defizite und Probleme im Fokus, wenn wir über ländliche Räume sprechen. Wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist genau das Beschriebene auch immer eine Frage der Sichtweise.

Wir als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen-Anhalt wollen in den nächsten Jahren ein Politikangebot umsetzten, in dem es auch um eine Konzentration auf ländliche Räume geht und eher die Stärken und Potenziale erkannt als Defizite bejammert werden. Wir wollen Sichtbarkeit für die Belange von ländlichen Räumen erzeugen. Unser bündnisgrünes Politikangebot will Antworten formulieren und Lösungen umsetzten, die nicht nur akzeptiert werden, sondern vor allem auch den tatsächlichen aktuellen Bedürfnissen und Prioritäten auf dem Land entsprechen.

Egal ob in städtischen oder ländlichen Räumen, ob in wachsenden oder schrumpfenden Regionen: Menschen müssen die gleichen Chancen haben, an der Gesellschaft teilzuhaben – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Wohnort und ihrem Geldbeutel. Daher brauchen alle Menschen Zugang zu guter Bildung, Qualifizierung und Arbeit, zu ärztlicher Versorgung, Pflege, Schulen und Kinderbetreuung, digitalen Angeboten, zu Kultur- und Freizeitangeboten und auch zu Einkaufsmöglichkeiten. Durch moderne Mobilitätsangebote, die Chancen von Digitalisierung und Integration, aber auch durch Energie- und Agrarreformen können ländliche Regionen so auch zukünftig lebenswert und attraktiv bleiben. Dabei darf es nicht von der Region abhängen, wie ein Lebensweg verläuft.

Doch tatsächlich entwickeln sich die regionalen Lebensverhältnisse immer stärker auseinander. Während es bundesweit um die großen Ballungszentren herum prosperierende Gegenden gibt, haben andere, meist ländliche Regionen massiv mit den Auswirkungen von Abwanderung und Alterung zu kämpfen. Das wirkt sich schon heute spürbar auf das Leben und die Versorgung in strukturschwachen ländlichen Regionen aus. Eine Landespolitik geprägt von falschen Analysen und Lösungsangeboten in Sachsen-Anhalt verstärkt diese Negativspirale noch. In Sachsen-Anhalt hängte die Sparpolitik der vorigen Landesregierungen ganze Landesteile ab von Mobilität und moderner digitaler und sozialer Infrastruktur. Eine zentralisierte Bildung zwingt Kindern auf dem Land überlange Schulwege auf. Industrielle Landwirtschaft und industrielle Tierhaltung lassen die ländlichen Räume veröden.

Wir Grüne setzen auf Investitionen in eine moderne Infrastruktur, mit dem Ziel echter Chancengerechtigkeit in ländlichen Räumen. Wir wollen die Wertschöpfung vor Ort stärken, indem wir umweltfreundliche Landwirtschaft, Mobilität und eine nachhaltige Energieversorgung mit Naturschutz, Tourismus, Handwerk sowie kleinen und mittleren Unternehmen zusammen denken. Wir erhalten die kleinen Schulen und sorgen überall für gute Bildung von Anfang an und lebenslang! Weitere Kürzungen an jeglicher sozialer Infrastruktur auf dem Land wollen wir verhindern.

Dabei kommt es uns darauf an, Politikangebote gemeinsam mit den Menschen vor Ort zu entwickeln und zu gestalten. Wir machen uns dafür stark, dass die Menschen zukünftig wieder mehr über ihre Belange mitentscheiden können. Das stärkt den Gemeinsinn in der Kommune und den Zusammenhalt einer Region und begünstigt die Akzeptanz eines demokratisch organisierten Gemeinwesens.

Für die nächsten Jahre bedeutet dies konkret:

Ländliche Räume brauchen eine angemessene finanzielle Ausstattung, um ihre Aufgaben im Sinne der Bürger*innen bewältigen zu können. Hier ist der Bund gefragt, dem Land und den Kommunen in Sachsen-Anhalt mehr finanziellen Spielraum zu geben. 2019 laufen der Länderfinanzausgleich und ebenso der Solidarpakt Ost aus. Hier sind bei den Bund-Länder-Finanzbeziehungen dringend Wege zu finden, einen solidarischen Föderalismus zu gewährleisten, damit sich die Spaltung in arme und reiche Regionen nicht vertieft.

Finanzzuweisungen erfolgen in erster Linie nach der Einwohnerzahl. In Sachsen-Anhalt wird allen Prognosen folgend die Einwohnerzahl weiter sinken; besonders betroffen sind hiervon die ländlichen Regionen. Die Infrastruktur wird aber nicht linear weiter schrumpfen können. Deswegen werden wir uns dafür einsetzen, dass die Bundes- und Länderfinanzzuweisungen durch einen Flächenfaktor ergänzt werden.

Wir wollen Chancengleichheit und gute Bildung für alle Kinder und Jugendliche & Erwachsene unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder der Region, in der sie aufwachsen. Gerade angesichts der demographischen Entwicklung und einer zunehmenden sozialen Spaltung dürfen wir kein Talent zurücklassen.

Für die Wege zu Schule oder Kita wollen wir den Grundsatz „kurze Beine, kurze Wege“ umsetzen. Statt Schulschließungen und viel zu langer Schulwege wollen wir Schulen ermöglichen, kleinere Klassen einzurichten und die ganztägige Betreuung auszuweiten. So können auch kleine ländliche Schulen erhalten bleiben.

Ob in der KiTa, im Hort oder Schule: es braucht qualifiziertes Personal. Wir fordern eine Ausbildungsoffensive, um dem bestehenden Fachkräftemangel entgegenwirken zu können. Die Ausbildung von Erzieher*innen muss kostenfrei ermöglicht werden und Pädagog*innen müssen in ausreichender Zahl ausgebildet werden. Qualifizierungsangebote für Quereinsteiger*innen wollen wir ausbauen.

Der ÖPNV ist gerade in ländlichen Räumen wichtiger Bestandteil der Daseinsvorsorge, der nicht Sparzwängen geopfert werden darf. Wir kämpfen dagegen, dass ganze Regionen verkehrstechnisch abgehängt werden und der Schulverkehr das einzige Angebot im öffentlichen Nahverkehr bleibt.

Neben den klassischen Nahverkehrsangeboten von Bus und Bahn wollen wir flexible, moderne und bedarfsgerechte Alternativen fördern – vom Anrufsammeltaxi über Bürger*innenbusse bis hin zum Kombibus, in dem Fahrgäste und Güter transportiert werden können. Privat oder im Verein organisierte Fahrdienste, Car-Sharing auf der wachsenden Basis von Elektrofahrzeugen und Bike-Sharing wollen wir unterstützen und das Radfahren auch in ländlichen Räumen leichter, bequemer und sicherer machen. Wir sind der Überzeugung, dass es sich lohnt, in öffentliche Verkehrsmittel zu investieren. Initiativen für einen fahrscheinlosen steuerfinanzierten ÖPNV stehen wir offen gegenüber.

Grüne stärken die regionale Wirtschaft und Landwirtschaft. Damit junge, gut qualifizierte Arbeitssuchende nicht abwandern und Unternehmen in der Region genügend Fachkräfte finden, müssen die Arbeit und das Leben auf dem Land attraktiv bleiben und werden.

Viele ländliche Regionen haben das Potenzial als „Garten der Metropolen“ nicht nur Naherholung zu bieten, sondern durch Kunst und Handwerk oder Direktvermarktung von Lebensmitteln ein vielfältiges wirtschaftliches Fundament zu legen.

Strategische Zuwanderung für eine wirtschaftliche Zukunft des ländlichen Raumes. Die erwerbsfähige Bevölkerung Sachsen-Anhalts wird bis 2030 um rund 30% sinken. Die Wachstumsraten Sachsen-Anhalts sind bereits jetzt im Vergleich zu anderen Bundesländern wegen der demografischen Krise deutlich niedriger. Die ländlichen Gebieten trifft diese demografische Krise noch viel stärker als die Großstädte. Klar ist: Es braucht Menschen, die die ländlichen Räume mit Leben erfüllen. Sachsen-Anhalt muss für Menschen attraktiv werden, die ihr Leben durch Arbeit verbessern wollen. Rückkehrkampagnen sind nur wenig erfolgreich. Deswegen setzen wir auch auf eine strategische Zuwanderung. Als zweiter Ansatzpunkt müssen wir es schaffen, dass mehr deutsche wie internationale Studierende nach ihrem Studium an einer Hochschule in Sachsen-Anhalt im Land Arbeit finden und bleiben.

Die Energie des Landes nutzen und zukünftig die Mitbestimmung vor Ort sowie regionale Wertschöpfung stärken. Die Energiewende ist ein wichtiger Schritt zur Sicherung des Energiebedarfes für die Zukunft. Insbesondere in den ländlichen Räumen finden sich die notwendigen Ressourcen, Flächen und die Potenziale, um Energieproduktion neu zu denken. Mit Biomasse, Windenergie und Photovoltaik lässt sich schon heute in vielen ländlichen Regionen der Strom von morgen klimafreundlich produzieren. Der Energiehunger insbesondere der Ballungszentren wird aktuell größtenteils durch die ländlichen Räume gedeckt. Hier liegen einerseits große Chancen für die ländlichen Räume, denn Erneuerbare Energien stimulieren die regionale Wertschöpfung, schaffen zukunftsfähige Arbeitsplätze und machen ländliche Kommunen unabhängig von Importen und Preissprüngen bei der Energieversorgung. Andererseits braucht es dringend einen Prozess, um tragfähige und vor Ort akzeptierte Energiegewinnungskonzepte zu entwickeln und die Wertschöpfung in den Erzeugerregionen zu belassen. Energiegewinnung geht nur mit den Menschen vor Ort und nicht gegen sie!

Neuer Ansatz in der Denkmalpflege. Das ländliche Kulturerbe prägt die Einzigartigkeit des ländlichen Wohnumfelds und soll fester Bestandteil des „ländlichen Lifestyles“ werden. Zahlreiche Zeugnisse bäuerlichen Bauens aus vielen Jahrhunderten berichten vom Leben und Arbeiten früherer Generationen. Wir wollen eine unterstützende Zusammenarbeit von Denkmalbehörden und Eigentümer*innen, die zu einer höheren Anziehungskraft für den Erwerb und die Sanierung / Erhaltung von Denkmälern beiträgt. Dazu sollen im Land Modellprojekte entstehen, in denen über die Denkmalbehörden kostenlos Fachwissen und Bauberatung / Betreuung bereitgestellt wird. Es muss einen Lastenausgleich zwischen dem Ressourcenverbrauch von industriellem Bauen und individueller handwerklicher Bauerhaltung geben. Lokale fachkundige Wertschöpfung in der Denkmalerhaltung soll handwerklich interessierten Menschen neue Entwicklungsperspektiven eröffnen. Baumaterialrecycling schon die Umwelt.

Wir Grüne machen uns stark für lebendige Ortskerne und gegen die Verödung von Dörfern und Kleinstädten. Unser Ziel ist, dass Kinos, Theater, Sportvereine, Bibliotheken, Seniorenangebote und Angebote von Jugend- und Sozialarbeit für alle zugänglich und gut erreichbar sind. Durch eine stärkere Kooperation von städtischen und ländlichen Räumen könnten v. a. im kulturellen Bereich die Stärken des einen und die Schwächen des anderen zum Wohle aller genutzt und kompensiert werden.

Um die Nahversorgung der Menschen mit regionalen Produkten zu sichern, wollen wir Direktvermarktung, mobile oder Online-Angebote ausweiten. Wir wollen Nachbarschaftshilfe, Bürgerwerkstätten sowie junge innovative Unternehmen als Träger des aktuellen Strukturwandels unterstützen. Zielsetzung ist hierbei eine lebendige Kommune der kurzen Wege.

Grüne Politik stärkt die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ländlichen Räumen. Deswegen unterstützen wir alle Menschen, die sich friedlich für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen. Wir GRÜNE wollen demokratisches Engagement und Vereinsarbeit sowie moderne Formen der Bürgerbeteiligung besser fördern. Wir beziehen Position gegen Rassismus, Antisemitismus und alle Ideologien der Ungleichwertigkeit.

Genossenschaften können wesentlich dazu beitragen, die Bindung an und das Engagement für ländliche Regionen zu stärken. Deshalb fordern wir eine stärkere Unterstützung bestehender und neugegründeter Genossenschaften.

Um die digitale Kluft zwischen Stadt und ländlichen Regionen zu schließen, müssen erhebliche Mittel für den Ausbau von schnellem Internet bereitgestellt werden. Eine Breitbandverbindung auf der Höhe der Zeit gehört für uns zur politischen Daseinsvorsorge. Neue Arbeitsmodelle wie Homeoffice, im Internet abrufbare Verwaltungsdienstleistungen oder Telemedizin – die Digitalisierung kann vielen Menschen die Fahrt oder gar die Abwanderung in die Stadt ersparen und eine Arbeits- und damit eine Lebensperspektive in ländlichen Raumen ermöglichen.

Beim Zugang zu Gesundheit können neue Modelle helfen, Versorgungslücken zu schließen. Schrumpfende Dörfer und Kommunen sind gerade für alte und kranke Menschen eine ernsthafte Gefahr, wenn dadurch der medizinische Schutz immer weiter ausgedünnt wird. Es bedarf deshalb der richtigen finanziellen und politischen Anreize, um auch weiterhin ärztliche Versorgung zu gewährleisten.

Eine wichtige Rolle spielen für uns alle Faktoren zu Gunsten von Familienfreundlichkeit in ländlichen Räumen. Denn nur attraktive ländliche Räume werden auch Orte bleiben, an denen sich Unternehmen, Ärzte und Familien gerne niederlassen.


Beschlossen auf dem Landesparteitag am 16.06.2018

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