Perspektiven aus der Pandemie – Niedriginzidenzstrategie für Sachsen-Anhalt jetzt angehen

In Deutschland und Sachsen-Anhalt steigen die Infektionszahlen seit Ende Februar wieder exponentiell an. Als Bundesland mit den nunmehr viertschlechtesten Werten bewegt sich die 7-Tage-Inzidenz in Sachsen-Anhalt aktuell rund um den Wert von 200. Tendenz steigend.

Die Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin geht davon aus, dass bis Ende April mindestens 6.000 Intensivbetten in Deutschland durch Covid-19-Kranke belegt sein werden – so viele wie auf dem Höhepunkt der zweiten Welle im Dezember des vergangenen Jahres. Spätestens im Mai wird diese Zahl nach den Prognosen überschritt werden. Im Süden unseres Bundeslandes sind die Kliniken bereits am Limit. Im ganzen Land sind Ärztinnen und Ärzte sowie die Pflegenden nach über einem Jahr Pandemie erschöpft und ausgebrannt.

Bereits jetzt müssen erneut Operationen in den Kliniken verschoben werden und die Gefahr, dass es zu einer Triage in Krankenhäusern der Bundesrepublik kommen kann, steigt täglich.

Das von Bund und Ländern im Sommer 2020 gesetzte Ziel, eine 7-Tage-Inzidenz von 50 auf 100.000 Einwohner*innen nicht zu überschreiten, wird bereits seit Oktober des vergangenen Jahres nicht mehr eingehalten.

Der seit Monaten andauernde inkonsequente und nicht alle gesellschaftlichen Bereiche gleichmäßig einbeziehende Lockdown führt u.a. zu massiven Unterrichtsausfällen und klassenweisen Quarantänen, Schließung von Ladengeschäften, Betrieben und Kultureinrichtungen, Existenzangst, Burn-Out-Erkrankungen sowie psychischen und emotionalen Schäden.

Wir alle sehnen uns derweil nach Besuchen bei Freund*innen und Familie, durchtanzten Nächten, Biergartenabenden, Theaterbesuchen und so vielem mehr, ohne dafür unsere Gesundheit, unser Leben oder das anderer Menschen zu gefährden. Die Einschränkungen seit März 2021 bringen uns diesem Ziel nicht näher. Sie lassen die Pandemie außer Kontrolle geraten und bringen gleichzeitig viele Menschen psychisch und physisch an ihre Grenzen. Mit diesen inkonsequenten Maßnahmen werden wir weiter Menschen in der Pflege, Familien, Kleinunternehmer*innen, Künstler*innen und viele andere unmenschlichen Belastungen aussetzen und zehntausende vermeidbare Tote ebenso wie Long-COVID-Betroffene beklagen.

Die nach dem Scheitern der Ministerpräsidentenkonferenz nun notwendig gewordene „Bundesnotbremse“ bei einer 7-Tage Inzidenz ab 100 begrüßen wir grundsätzlich. Ihre Ausgestaltung kritisieren wir. Sie löst das Problem nicht und wird – so lange die Bundesländer keine eigenen, konsequenten Maßnahmen ergreifen – weiter zu einem gefährlichen Jojo-Effekt führen.

Angesichts des weltweiten Infektionsgeschehens, und immer neu auftretender Mutationen hilft nur eine Niedriginzidenzstrategie, eine Perspektive zu entwickeln. Ein starkes Infektionsgeschehen bei laufender Impfkampagne erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Mutationen auftreten, gegen die verfügbare Impfstoffe nichts oder nur wenig ausrichten können. Nur niedrige Inzidenzen sichern dauerhaft den Impferfolg und ermöglichen einen Ausweg aus der Pandemie.

Nur mit einer Niedrig-Inzidenz-Strategie können wir verhindern, dass unser Gesundheitssystem zusammenbricht. Wir haben es jetzt in der Hand, vermeidbare Todesopfer und Langzeiterkrankungen zu verhindern.

Länder wie Portugal haben gezeigt, dass eine Niedrig-Inzidenz-Strategie auch unter den Bedingungen der aktuellen Mutationen möglich ist. Wir halten konsequente und wirksame Maßnahmen für notwendig,

Gesamtgesellschaftliche Verantwortung tragen

In der Vergangenheit wurden einzelne Lockerungen und Ausnahmen stets mit dem Argument begründet, dass das Ausbruchsgeschehen in genau diesem Bereich nicht signifikant zum Gesamtgeschehen beitrage. Die Pandemie ist allerdings genau deshalb so schwer zu bekämpfen, weil sich das Gesamtgeschehen mittlerweile aus vielen Infektionsherden zusammensetzt. Folglich ist die einzige Lösung in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens Einschränkungen als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung jetzt gemeinsam und schnell umzusetzen.

Konsequente Maßnahmen im Wirtschafts- und Berufsleben

Viele Unternehmen handeln in der Pandemie verantwortungsvoll und umsichtig. Dennoch wird deutlich, dass die freiwillige Selbstverpflichtung für Home-Office von zu vielen Unternehmen noch immer nicht ausreichend umgesetzt wird. Im Infektionsschutzgesetz wollen wir daher eine Home-Office-Pflicht für alle Arbeitsplätze einführen, an denen das möglich ist. Wo weiterhin in Präsenz gearbeitet werden muss, soll von den Unternehmen ein verbindlicher Selbsttest für alle Arbeitnehmer*innen zweimal pro Woche umgesetzt werden.

Die öffentliche Verwaltung muss dabei als Vorbild vorangehen.

Organisation des Schul- und Kitabetriebs

Uns liegt das Kindeswohl am Herzen. Deshalb machen wir uns hier die Entscheidung nicht leicht. Wir wollen eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Kindeswohl und dem Infektionsschutz treffen. Eine hochinzidente Pandemielage mit Infektionen, die von den Kindern in die Familien getragen werden und dort dramatische Folgen haben können, sind für Kinder und Jugendliche mindestens ebenso belastend sein wie lange Zeiten von ausschließlichem Distanzunterricht.

Niedrige Inzidenzen sind deshalb die beste Garantie dafür, das Kindswohl in allen Belangen schützen zu können. Die nun im Infektionsschutzgesetz genannte Grenze von 165 für den Wechsel in den Distanzunterricht ist zu hoch und für das Kindswohl kontraproduktiv. Deshalb fordern, wir den Schwellenwert deutlich abzusenken.

Eine mindestens zweimalige Testpflicht je Woche soll in den Schulen so lange aufrechterhalten werden, bis die Impfquote in der Gesamtbevölkerung ausreichend hoch ist. Wir trauen auch Kitakindern zu, sich testen zu lassen und begrüßen deshalb die Testangebote des Sozialministeriums an alle Kita-Kinder.

Die notwendige Betreuung der Kinder durch einen Elternteil wollen wir auch arbeitsrechtlich mit zusätzlichen Tagen absichern.

Kontrolle und Durchsetzung der Maßnahmen

Ein Grund für die negative Entwicklung der Pandemie seit dem vergangenen Herbst ist das Nichtnutzen der Niedriginzidenzzeit im Sommer zur Entwicklung einer nachhaltigen (Niedriginzidenz-)Strategie, sodass die Zahlen in Sachsen-Anhalt und Deutschland anfangs wenig beachtet steigen konnten. Daran schließt sich die halbherzige Umsetzung der dann ab Ende Oktober notwendig gewordenen Maßnahmen, ja das aktive Verwässern durch einige Ministerpräsidenten, an.

Beschlossene Maßnahmen wollen wir konsequent umsetzen. Ihre Durchsetzung muss kontrolliert werden. Das bedeutet, dass die Regeln im öffentlichen Raum, den Betrieben und z.B. bei der Durchsetzung der Quarantäne stärker kontrolliert werden müssen. Nur mit wirksamen Maßnahmen, konsequenter Durchsetzung und effizienter Kontrolle bekommen wir die Pandemie in den Griff.

Ergänzung der Inzidenz-Zahl um eine weitere Kennzahl

Zu der Inzidenz-Zahl sollte eine weitere Messgröße hinzutreten: die Zahl der Covid-19-Erkrankten, die auf Intensivstationen aufgenommen werden. Diese Zahl ist ein verlässlicher und unbestechlicher Indikator für die Entwicklung der Pandemie, die Auswirkung neuer Mutationen und auch für die Wirksamkeit von Impfungen in den kommenden Monaten. Ob sie hoch ist oder niedrig, ob sie steigt oder sinkt, soll rechtzeitig vor der Überlastung von Kliniken in die Betrachtung einbezogen werden.

Wir wollen auch die Datengrundlage für politische Entscheidungen verbessern und mehr Daten zur Beurteilung der pandemischen Lage öffentlich bereitstellen.

Unterscheidung zwischen drinnen und draußen

Die aktuelle Studienlage zeigt, dass sich in der nun anstehenden wärmeren Jahreszeit Möglichkeiten bieten, im Außenraum anders mit der Pandemie umzugehen als in Innenräumen. Im Frühjahr und Sommer sollten deshalb Sport für Kinder im Außenraum und auch Begegnungen zwischen Menschen aus zwei Haushalten möglich sein. Die Öffnung der Außengastronomie und entsprechende Modellprojekte können aber erst in Betracht gezogen werden, wenn wir eine Inzidenz von unter 100 erreicht haben und diese wissenschaftlich begleitet werden.

Konsequente, wirksame Maßnahmen für alle Bereiche der Gesellschaft, solidarisch getragen, sind unser Ziel. Erst eine Niedriginzidenzstrategie, die erreichte Erfolge sichert, statt sie zu verspielen, bietet eine Perspektive für alle Menschen und die Möglichkeit, unsere Freiheiten dauerhaft zurückzugewinnen

All dies schaffen wir nur, wenn wir es allen Menschen in Sachsen-Anhalt ermöglichen, die nächsten Wochen auch finanziell zu überstehen. Wir brauchen daher ein schnelles, solidarisches und unbürokratisches System, das sicherstellt, dass Löhne, Gehälter, Sozialleistungen, Bafög usw. weitergezahlt werden. Für Unternehmen und (Solo-)Selbsständige, die auf Grund der „Bundesnotbremse“ zeitweise schließen müssen oder während der Gültigkeit des Gesetzes nicht wieder öffnen können, muss es zeitnah leicht zugängliche und breit angelegte Hilfsprogramme geben. Wir wissen, dass unsere Forderungen eine große Belastung für Menschen – insbesondere für Kinder und sozial vulnerable Gruppen – darstellen.

Wir sind uns bewusst, dass alle Menschen müde sind und das Vertrauen in die politischen Entscheidungen erodiert. Genau aus diesem Grund sollten wir uns jetzt auf einen Weg begeben, der eine tatsächliche Entspannung der Pandemielage innerhalb weniger Wochen ermöglicht und diese Erfolge nachhaltig sichert. So können wir unsere Freiheiten zurückgewinnen.

Beschlossen auf dem 44. Landesparteitag in Magdeburg am 24. April 2021