„Die Soldatengräber sind die großen Prediger des Friedens.“ (Albert Schweitzer, Friedensnobelpreisträger)

Unsere Landesvorsitzende Susan Sziborra-Seidlitz denkt in Flandern über Krieg und Frieden nach

 

Der etwa sechzigjährige Mann weint. Er steht auf dem „Studentenfriedhof“, einem traurigen, trüben Ort in Langemarck, Flandern. Hier liegen 44.304 deutsche Soldaten, die während der ersten großen Flandernschlacht 1914 fielen. Überwiegend junge Männer, Studenten und ältere Reservisten zählen zu den hier Begrabenen. Und unter Eichen, auf trockenem Gras, umgeben von dunklen Platten mit zahlreichen eingravierten deutschen Namen und Lebensdaten und dicken grauen Quadern mit noch viel mehr Namen darauf – Namen derer, die in einem Massengrabfeld liegen – steht dieser Mann und weint bitterlich. Als er uns (ich bin mit meinem Mann und meinem Sohn hier) anspricht halte ich ihn für einen Briten, später glaube ich, er wird wohl Neuseeländer gewesen sein. Er fragt uns ob wir Deutsche seinen, dann reicht er uns die Hand und erzählt – immer wieder von Schluchzen unterbrochen – seine Geschichte. Ich verstehe nicht alles, was er berichtet, von seinem Vater, der in den 50er Jahren Deutsche in sein Haus einlud und dafür im Dorf angefeindet wurde, und wie der Vater die Dorfbewohner dazu lud. Von dem großen Grabstein eines Professors und seiner Studenten, den er hier grad fand, und der ihn so sehr bewegt hat. Aber was ich verstehe, immer wieder und sehr klar ist: Never again! Er spricht von europäischer Geschichte, und dass wir doch alle wissen müssten, wie es begann, dann weint er wieder und wir weinen zusammen und versichern uns noch ein paar mal: Never again.

Es bleibt mein stärkster Eindruck diesem einem Tag in Flandern. Wir werden den Friedhof Tyne Cot sehen, auf dem unzählige aus dem Commonwealth stammende Tote der Schlacht von Passchendale 1917 begraben sind. In einem Besucherzentrum liest eine Mädchenstimme ununterbrachen die Namen der Toten vor. Einen Tag nach unserem Besuch findet hier die offizielle Neuseeländische Gedenkveranstaltung statt. Wir werden das Museum „In Flanders Fields“ in Ypern sehen. Jener mittelalterlichen Stadt, die in den Flandernschlachten vollkommen zerstört worden war und in den 1920er Jahren originalgetreu wieder errichtet wurde. Die Ausstellung berührt mit einer hochmodernen Präsentation und rückt mir Leid, Zerstörung und Elend sehr nahe. Was wir Wissenden Zivilisationsbruch nennen kriegt hier ein Gesicht, viele Gesichter. Kaputte, zerstörte Gesichter. Und Namen.

Wir werden den Last Post im Menenpoort erleben, eine bewegende täglich stattfindende Gedenkveranstaltung für vermisste Commonwealth-Soldaten des ersten Weltkrieges. Und wir erleben zuvor die Ankunft einer Maori-Armeeeinheit im Kanu und eine besonders neuseeländische Ausprägung dieses Gedenkens.

Aber noch am Abend denke ich an diesen Mann auf dem Friedhof. Den Neuseeländer, der zum Gedenken an „seine“ Opfer des ersten Weltkrieges nach Europa kam und nun dort stand und um die deutschen Studenten weinte, die doch ebenso sehr Opfer waren. Dem es wichtig war, genau mit uns zu sprechen, den Deutschen mit dem halbwüchsigen Jungen um sich zu versichern, dass er nicht allein ist mit seinem „Never again“, dass es noch trägt, auch am anderen Ende der Welt. Dass bei allen Beweisen für das Gegenteil noch immer die Hoffnung lebt, dass Lehren gezogen wurden aus diesem einen, diesen beiden entsetzlichen Kriegen. Und ich danke ihm in Gedanken. In Zeiten wie diesen, in denen mit Nationalismus wieder Wählerstimmen gewonnen werden, wo Aufrüstung statt Abrüstung wieder das Gebot der Stunde scheint, wo die Eskalation via Twitter noch viel schneller geht als in den Depechen und Briefen des frühen 20en Jahrhunderts und in denen die sozialen Verwerfungen wieder zunehmen, kann man das Gefühl bekommen, sie sind vergessen. Die Toten, Verstümmelten, Verwaisten. Die zerstörten Städte, massakrierten Landschaften. Und Menschen wie er, wie die Schulklassen die die Friedhöfe und Ausstellungen, die Gedenkstätten auch in Polen, Deutschland, Russland besuchen, Menschen die sich berühren lassen davon und dabei verstehen, die machen Mut. Mut, dass es vielstimmig bleibt und dass es weiter wirkt, dieses „Never again!“, „больше никогда“, „Niemals wieder!“…..