17. Juni 1953: Mehr als eine Straße in Berlin – Geschichte wird gemacht

Ich bin lange nach 1953 in Ostberlin geboren worden und sogar meine Mutter war damals, Anfang der 50er, noch bloße Phantasie meiner frisch verliebten Großeltern. Insofern, und wegen des andauernden Totschweigens der sonst an Geschichten zur Geschichte wahrlich nicht armen DDR-Volksbildung, war mir der 17. Juni bis zur Friedlichen Revolution gar kein Begriff. Nach 1989 verband ich zunächst auch die große breite Allee zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor damit, die sich trefflich für Veranstaltungen und Aufzüge jeder Art eignet.

Ein Blogbeitrag von Susan Sziborra-Seidlitz

Dunkel erinnere ich mich an die Diskussion darüber, den 17. Juni durch den 3. Oktober als Feiertag der Deutschen Einheit zu ersetzen. Es war mir damals egal. Deswegen bleibt davon wohl auch nur die Verwunderung, dass in Westdeutschland der Deutschen Einheit schon ein Feiertag gewidmet war. Die Deutsche Einheit, das war für mich als in der DDR Geborene eine so absurde Idee, dass sie gar nicht vorstellbar war.

Der Prager Frühling, ja, der fand in den Erzählungen auch meiner Eltern mitunter Platz, der war mir ein Begriff. Das mag an der in unserer Familie verbreiteten Liebe zu Tschechien und Prag liegen, oder an der inneren Distanz, die das Ganze betrachtbarer und begreifbarer machte und die Frage „Wo standest, wo stehst du?“ ausklammerte. Wahrscheinlicher ist, dass es in meinem Umfeld einfach mehr Zeitzeugen gab. Mehr Leute, die als Kinder wahrgenommen und – zumindest gefiltert – gesehen hatten, was knapp 15 Jahre später 1968 in Prag geschah. 

Später befragt, gab es in meiner Großelterngeneration einige, die von Rabauken und Konterrevolutionären erzählten, die an jenem 17. Juni 1953 die Straßen in Berlin unsicher machten – da klingt die ostdeutsche Erzählung vom „faschistischen Aufstand“ durch. Wenn ich heute Zeitzeugenberichte und die Aufarbeitung von Historikern lese, dann drängt sich mir doch die Frage auf: „Wo würdest du heute stehen?“

Wie kann es kommen, dass ein noch junger Staat, in dem zumindest ein Teil seiner Bewohner vom Ideal einer besseren Welt und einer besseren Gesellschaft träumt, seine eigenen Bürger von Militär und Panzern überrollen lässt? Wie konnte es dazu kommen, dass die berechtigte Forderung nach ausreichender Versorgung und gerechter Verteilung von Arbeit und Lohn zur Ausrufung des Kriegszustandes führte? Wie kann es sein, dass die Euphorie, die zwangsläufig entsteht, wenn viele gemeinsam um das Gerechte streiten – und diese Erfahrung wiederum kenne ich seit dem Herbst 1989 – einen Staat so zum Überschnappen bringt? Zu unzähligen Verhaftungen, Verurteilungen, zu Toten in den Straßen führt? 

An diesem Tag zeigte sich gnadenlos die Schwäche der DDR und an diesem Tag hatten sich ihre Machthaber endgültig für einen Kurs gegen das eigene Volk entschieden. Dass viele davon gar nichts merkten, kann nicht die vielen Fälle entschuldigen, in denen diese Haltung gegenüber den Bürgern zu Repression und Verrat führte.

Die Diskussion darüber, ob man die DDR als Unrechtsstaat bezeichnen solle – und wenn ja, in welcher Ausprägung – erscheint mir zynisch angesichts der Fotos, die (nicht nur) von 1953 verfügbar sind. Und doch habe ich später auch bei Menschen, die 1989 aktiv an der Revolution beteiligt waren, eine Distanz zum Arbeiteraufstand am 17. Juni herausgehört. Das war eine Westgeschichte. Die im Osten ging anders und wurde nicht erzählt.

Wenn ich heute Zeitzeugenberichte lese, lesen sich die Geschichten oft wie Dinge, die ich jahrelang in Berlin am 1. Mai beobachten konnte. Oder die ich als junges Mädchen vom Fenster der Wohnung meiner Eltern aus bei der Räumung der Mainzer Straße in Berlin beobachtete. Der Unterschied ist: Nach dem 1. Mai, ja auch nach der Räumung der Mainzer Straße, lebten die Menschen ihr Leben weiter, meist genau so wie zuvor. Nach dem 17. Juni war das in der DDR nicht mehr möglich. Insofern macht es Sinn, dass dieser Tag ein Feiertag in der Bundesrepublik wurde, um den Mut der Menschen zu ehren. Dass es die Deutsche Einheit war, der man ihn widmete, erscheint mir wie eine krasse Fehldeutung der Absicht der Aufständischen. Aber vielleicht fehlen mir da einfach noch ein paar Zeitzeugenberichte.

Also nutzen wir doch die Chance, die sich noch bietet: Hören wir den Zeitzeugen zu und lassen sie die Geschichte des 17. Juni 1953 erzählen. Jenseits von Todschweigen und jenseits vom Tag der Deutschen Einheit, jenseits von Instrumentalisierung und Verklärung. Als deutsche Geschichte. Solange noch Zeit ist.