Kaltland

Ein Text von Susan Sziborra-Seidlitz | In dieser Woche jährt sich der Todestag von Silvio Meier zum 25. Mal. Obwohl ich Silvio nicht kannte, berührt mich das mehrfach.

Der U-Bahnhof, auf dem er nach einem Streit von Neonazis erstochen wurde, war jahrelang der vor meiner Haustür. Und Silvio Meier wurde in Quedlinburg geboren, der Stadt, in der ich nun lebe. Wo es ihn von dort nach Berlin zog, in die größere freiere Stadt, begegnete ich nach meinem Ankommen in der Kleinstadt Weggefährt*innen von ihm, Menschen, die sich an ihn als Person erinnern. Ich kenne nur Bilder. Und die stehen symbolhaft für eine raue Zeit in Berlin (und nicht nur dort), eine Zeit, in der Silvio nicht der einzige Tote blieb.

Sein Tod wird auch heute noch manchmal abgetan als Folge einer Prügelei zwischen „rechten“ und „linken“ – halt irgendwie ideologisch verblendeten und verfeindeten – Jugendlichen. Dabei ist er viel mehr. Es gehört viel dazu den Schritt vom bloßen „Kloppen“ (und auch die Diskussion wie sinnvoll dieses ist, führe ich regelmäßig mit meinem halbwüchsigen Sohn) zu einem gezogenen Messer zu gehen. Oder zu Brandsätzen wie in Rostock, Mölln, Solingen. Oder zu Steinen auf bloße Köpfe wie in Quedlinburg.

Das ist Ausdruck einer erschütternden Rohheit. Da wurden Menschen nicht mehr als Individuen gesehen, als Brüder und Schwestern, die vielleicht ein bisschen anders aussehen, sich anders kleiden, anders sprechen oder eine andere Vorstellung von Leben, vom Zusammenleben haben – da wurden sie zu diffusen Feinden. Feinde, die gejagt wurden, geschlagen, die verjagt werden sollten und wenn sie sich nicht verjagen ließen: vernichtet. Und an einigen Orten war es noch furchtbarer, „normale Menschen“ applaudierten bei Brandanschlägen, bei Pogromen. Ich hoffe, mit dem Abstand der Zeit ist die Scham bei ihnen. Mir ist bis heute nicht klar, woher eine solche Haltung kommen kann. Sozialpädagogen haben oft versucht, das mit Frust und Wut zu erklären, aber ich bin überzeugt, das ist mehr. Denn wütend und frustriert waren viele – so barbarisch agierten aber nur einige.

Ich war froh, als die 90er vorbei waren; weil irgendwie verschwand mit ihnen auch diese extreme Brutalität ein bisschen.

Dass die Brutalität mit dem NSU im Untergrund weiterlebte, erfuhren wir alle erst retrospektiv. Zumindest ihre Auswüchse waren nicht mehr so deutlich zu sehen. Verdammt – wahrscheinlich war es nie weg. Eben so wenig wie die Gleichgültigkeit oder das (inzwischen nicht mal mehr) heimliche Applaudieren der „Leute“.

In diesen Tagen erleben wir wieder die Auseinandersetzung um den 13 Jahre zurückliegenden Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle. Er verbrannte dort qualvoll in Gewahrsam, auch in Obhut von Polizeibeamten. Schon von Beginn an stand der unfassbare Vorwurf im Raum, Polizisten könnten mit seinem Tod etwas zu tun gehabt haben. Und dieser Verdacht konnte bis heute nicht ausgeräumt werden, weil ebendiese Beamten statt mit Entsetzen, Schuldgefühl, Scham, Bedauern mit Vertuschung und inzwischen gerichtskundlichen Lügen reagiert haben. Kaltschnäuzig, empathielos, unmenschlich. Selbst, wenn man – im Zweifel für den Angeklagten – den Mord nicht nachweisen kann, bleiben diese Vorwürfe. Und sie zeugen von Rohheit. Von Korpsgeist der über Menschlichkeit steht.

Und noch erschreckender: im zuständigen Landesparlament und in Leserbriefen in der Zeitung kommt eine „Ist doch gut jetzt“-Debatte auf. Ein AfD-Abgeordneter (oder ein Namensbruder, der zufällig den gleichen Beruf hat – aber das tut auch nichts zur Sache) äußert in einem Schreiben an die Presse sogar Verständnis – es habe sich bei Jalloh ja schließlich um einen Dealer gehandelt. Dann ist es egal, oder was will er damit sagen? Die Barbarei der 90er ist zumindest verbal in den deutschen Parlamenten angekommen. Und auch wenn sie zum Beispiel von rechten Hausprojekten wie in Halle noch „nur“ vereinzelt ausgeht, sie ist wieder da. Das macht mich frieren.

Und da schließt sich der Kreis: Seit 2016 verleiht der Berliner Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg den Silvio-Meier-Preis an Menschen, Vereine, Initiativen und Projekte, die sich in herausragender Weise gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung einsetzen. In diesem Jahr erhielt ihn die Initiative „Aufstehen gegen Rassismus“, die gegen Rassismus in all seinen Erscheinungsformen arbeitet. Auch gegen den der AfD. Die Partei hat versucht, diese Preiswürdigung gerichtlich zu stoppen. Sie ist am Montag damit vor dem Verwaltungsgericht Berlin gescheitert. Gut so. Zeit wieder aufzustehen!